Dein Kleines ist häufig unruhig und beansprucht besonders viel Aufmerksamkeit, sodass du dich fragst, ob seine Verhaltensweisen noch „normal“ sind oder schon als hyperaktiv gelten? Das geht vielen Eltern so! Höchste Zeit also, einen genaueren Blick auf die viel diskutierte Hyperaktivität von High-Need-Babys und ihre Abgrenzung zu ADHS zu werfen.
Was ist Hyperaktivität eigentlich?
Das Phänomen der Hyperaktivität ist ein noch relativ Neues. Noch vor wenigen Jahren wurden Kinder mit auffälligem Verhalten schlichtweg als besonders quengelig, anstrengend oder sogar bösartig abgetan. Heute dagegen haben Medizin und Psychologie viele menschliche Eigenarten entschlüsseln und ergründen können. Zeitgleich ist die Hyperaktivität aber auch zu einem inflationär verwendeten Schlagwort in den Medien geworden, bei dem niemand mehr richtig zu wissen scheint, wo genau eine Charaktereigenschaft endet und eine Verhaltensauffälligkeit beginnt, die auf eine Krankheit hindeutet. Und genau hier liegt auch schon ein wichtiger Grundsatz: Hyperaktives Verhalten ist eher ein breit gefächertes Spektrum mit unterschiedlichen Ausprägungsgraden, die von leicht bis schwer reichen.
Per Definition zeigt ein hyperaktives Kind ein nicht ausreichendes kontrolliertes und besonders aktives Verhalten, das oft mit motorischer Unruhe und überschießenden Reaktionen einhergeht. Bereits diese Beschreibung wirkt etwas schwammig und ungenau, schließlich könnte sie auch auf einen sehr temperamentvollen Charakter des Kindes hindeuten. Man sollte sich also hüten, leichtsinnig mit dem Begriff der Hyperaktivität um sich zu werfen. Gleichzeitig solltest du dir darüber im Klaren sein, dass man die Hyperaktivität zwar auch einfach als Beschreibung für bestimmte Verhaltensweisen benutzen kann, es sich aber ebenso um ein Symptom der Erkrankung ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) handelt.
High-Need-Babys – Fast schon hyperaktiv
In den letzten Jahren ist das Konzept des High-Need-Babys, welches von US-amerikanischen Kinderarzt Dr. William Sears entwickelt wurde, immer bekannter geworden. Er führt darin 12 Kriterien an, die darüber aufklären sollen, warum und inwiefern manche Kinder fordernder und betreuungsintensiver sind als andere. Eine der Eigenschaften in dem Konzept ist auch die Hyperaktivität. Die High-Need-Babys sind sehr aktiv, sowohl geistig als auch körperlich. Sie erwecken den Anschein, als wären sie jeder Zeit zum Aufbruch bereit und haben einen hohen Bewegungsdrang.
Dr. Sears betont allerdings ausdrücklich, dass der Begriff hyperaktiv im Sinne einer Beschreibung zu verstehen ist und seine High-Need-Babys nichts mit ADHS zu tun haben. Er versteht das Wort im Vergleich zu dem Verhalten von anderen Babys. Das Konzept soll Eltern, die ein Kind mit High-Need-Charakter haben, dabei helfen zu verstehen, was sich dahinter verbirgt. Des Weiteren soll das Konzept zeigen, dass sie mit der anstrengenden Situation nicht allein sind, denn oftmals sind die Babys sehr ressourcenintensiv und ihre Betreuung anstrengend. Eltern fühlen sich deshalb oft überfordert und glauben, dass sie etwas falsch machen. Hier sind nochmal alle zwölf Kriterien zusammengefasst:
12 Hinweise auf High-Need-Babys nach Dr. William Sears
- Intense: Sprösslinge mit High-Need-Charakter fühlen alles intensiver, reagieren dementsprechend stärker auf Umwelteinflüsse und bringen ihre Emotionen stark und mit viel Unruhe zum Ausdruck.
- Hyperactive: Die Körpersprache ist besonders deutlich und die Muskeln des Babys stets angespannt.
- Draining: Den außergewöhnlichen Bedürfnissen der kleinen Maus nachzukommen, fordert von Eltern sehr viel Energie ein. Hier gilt es, so gut wie möglich ruhig und nachsichtig zu sein und wenn möglich Hilfe in Anspruch zu nehmen.
- Feed Frequently: High-Need-Babys wollen ständig gefüttert werden - nicht nur, weil sie Hunger haben, sondern auch für die körperliche Nähe an der Brust der Mutter.
- Demanding: Forderndes Verhalten steht an der Tagesordnung - die Knöpfchen möchten nicht nur viel herumgetragen werden, sondern schreien auch sehr laut, wenn ihre Wünsche nicht sofort erfüllt werden.
- Awakens Frequently: Betroffenen Kindern fällt es schwer, ein- und vor allem durchzuschlafen.
- Unsatisfied: Trotz des Fütterns, Herumtragens & Co. wirken High-Need-Babys oft unzufrieden und quengelig.
- Unpredictable: Intensive Gefühle sorgen bei den Kleinen für starke Stimmungsschwankungen, die ihr Verhalten unberechenbar machen. In der einen Sekunde zeigen sie sich von ihrer charmanten Seite und in der nächsten brüllen sie vor Wut.
- Super-Sensitive: Die Sprösslinge sind nicht nur super sensibel, sondern auch schnell reizbar. Geräusche und Veränderungen, die andere teils gar nicht wahrnehmen, sorgen bei ihnen für große Unruhen.
- Can't Put Baby Down: Auch hier spielt der Körperkontakt eine bedeutende Rolle: Die Babys möchten ständig getragen und gehalten werden.
- Not A Self-Soother: Diesen Knöpfchen reichen weder Schnuller noch faszinierende Baby Spielzeuge, um zur Ruhe zu kommen - eine wichtige Bezugsperson ist gefragt.
- Seperation Sensitive: Kindern mit hohen Bedürfnissen fallen Trennungen besonders schwer. Die Bindung ist vor allem zur Mutter sehr eng, was zur Folge hat, dass der Trageversuch der Großeltern oder sogar des anderen Elternteils mit lautem Geschrei quittiert werden kann.
ADHS – Hyperaktivität als Symptom
Auch über ADHS wird in der Öffentlichkeit und unter Expert:innen viel diskutiert. Während die einen es als extreme Verhaltensausprägung betrachten, die einen fließenden Übergang zur Normalität hat, sehen andere darin eine Krankheit. Weil die Unterscheidung oft nicht leicht ist, ist die Diagnose ADHS an strenge Bedingungen geknüpft, bei denen es entscheidend ist, ob es zu einer starken Beeinträchtigung der Lebensführung und zu erkennbarem Leiden kommt. Ist das nicht der Fall, so ist auch die Diagnose ADHS nicht zulässig. Die Symptome allein reichen also nicht aus, um eine ADHS-Diagnose zu stellen, folglich tut es das hyperaktive Verhalten erst recht nicht. ADHS zeigt sich oft weniger durch Hyperaktivität als durch andere Merkmale. Diese sind:
- Aufmerksamkeitsprobleme
- Impulsivität
- Schwierigkeiten mit der der Selbstregulation
Hyperaktivität im Sinne einer starken körperlichen Aktivität zählt manchmal ebenfalls dazu, aber nicht zwangsläufig. Während ADHS früher als reines Verhaltensproblem betrachtet wurde, weiß man heute, dass die Ursachen in vielen Fällen biologischer Natur sind und eine starke genetische Komponente aufweisen. Als Risikofaktoren gelten unter anderem Komplikationen während der Schwangerschaft und während der Geburt, ein niedriges Geburtsgewichts, Infektionen sowie Verletzungen des zentralen Nervensystems. Auch der Konsum von Alkohol und Tabak erhöht das Risiko von ADHS.
Wie solltest du mit der Hyperaktivität umgehen?
Im Säuglings- beziehungsweise Kleinkindalter ist es nicht leicht, eindeutig zu bestimmen, ob es sich um ein High-Need-Baby handelt oder ob möglicherweise erste Anzeichen von ADHS vorliegen, da sich die Merkmale sehr ähneln. Bereits im Babyalter fallen beide Typen durch häufiges und lautes Schreien auf, lassen sich nur schwer beruhigen, müssen sich permanent bewegen und haben nur äußerst selten Lust, sich länger mit ihrem Spielzeug zu beschäftigen. Des Weiteren sind sie leicht reizbar und verweigern oftmals körperlichen Kontakt.
Wichtig ist allerdings, dass sich Eltern immer vor Augen führen, dass sich ihr Kind nicht aus Böswilligkeit so verhält. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sein Verhalten genetische Ursachen hat. Folglich solltest auch du dir nicht übermäßige Vorwürfe machen, denn selbst die besten Eltern der Welt haben mit derlei intensiven Kindern Probleme. Fakt ist aber auch, dass dein kleiner Schatz möglicherweise eine spezielle medizinische beziehungsweise psychologische Betreuung braucht. Dennoch musst du ihn nicht als krank und abnormal betrachten, denn das Ziel der Betreuung ist es Bedingungen herzustellen, die den Bedürfnissen und Fähigkeiten des Kleinen gerecht werden. Bestimmte Charaktere passen manchmal schlichtweg nicht optimal in eine gewöhnliche Umgebung und benötigen ein alternatives Lernumfeld. Es gilt nämlich ebenfalls als erwiesen, dass weder High-Need-Babys noch ADHS-Kinder grundsätzlich weniger intelligent sind. Im Gegenteil: Oft haben sie überdurchschnittliche Fähigkeiten in Bereichen wie Sensibilität, Empathie, Offenheit und Kreativität. Sie sind außerdem sehr begeisterungsfähig, haben einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und entwickeln besondere Neigungen, wie zum Beispiel zum Leistungssport.