Im ersten Teil des Artikels haben wir dir die Bindungstheorie von Bowlby und Ainsworth vorgestellt. Dabei hast du erfahren, wie genau das Konzept funktioniert und welche verschiedenen Bindungstypen es gibt. Im zweiten Teil beschäftigen wir uns mit den Folgen und Auswirkungen unserer Bindungen. Die Erkenntnisse der Theorie sind extrem spannend und zeigen worauf es im Leben wirklich ankommt.
Ohne Bindung geht es nicht
Kommt ein Baby auf die Welt ist es schutzlos und hilfsbedürftig. Daraus ergibt sich eine Abhängigkeit von anderen Menschen, die das gesamte Leben überdauert. Gemeint ist damit keine Abhängigkeit im negativen Sinn, sondern ein angeborenes Bedürfnis nach gefühlvollen Beziehungen. Dass wir ohne soziale Kontakte nicht glücklich werden können, ist schon lange kein Geheimnis mehr. Mit der Art und Weise des Zustandekommens sowie der Beschaffenheit dieser Kontakte und Beziehungen befasst sich die Bindungstheorie. Dabei gibt sie sowohl Aufschluss darüber, wie gesunde und sichere Bindungen zustande kommen als auch über die Entstehung von negativen und destruktiven Bindungen. Die im ersten Teil des Artikels erläuterten Typen sind relativ eindeutig charakterisiert. In der Realität bilden Kinder jedoch verschiedene Bindungstypen zu verschiedenen Bezugspersonen aus, wobei sich allerdings ein dominantes Muster herauskristallisiert. Es gibt eine Hauptperson, die sich diesen Status durch die größte Feinfühligkeit in der Interaktion mit dem Kind verdient hat. In stress- oder angstauslösenden Situationen wird diese Person aufgesucht, weil sie eben am besten trösten und beruhigen kann. Daneben gibt es zwei bis drei weitere Bezugspersonen, die diese Funktion bei kleineren Stresssituationen erfüllen können.
Der Sinn des Bindungsverhaltens
Die Beziehungen zu den Bezugspersonen sind von derart existenzieller Notwendigkeit, dass das Kind unter allen Umständen versuchen wird, diese aufrecht zu erhalten. Die Verhaltensweisen, um dieses Ziel zu erreichen sind Blickkontakt aufnehmen, lächeln, schreien, festklammern und zur Mutter krabbeln. Auf dieser Art sichert sich das Kind die Nähe, Sicherheit und Geborgenheit, auf die es angewiesen ist. In dem in Teil 1 geschilderten Experiment war die Bezugsperson die Mutter und auch im echten Leben ist sie meist die primäre Bezugsperson. Das Verhältnis zwischen Mutter und Kind beruht auf einer tiefen Verbundenheit und Abhängigkeit. Dies wird Symbiose genannt. Wenn dieses symbiotische Verhältnis richtig funktioniert, sprich die Bedürfnisse befriedigt werden können, erwacht nach dieser symbiotischen Phase eine sogenannte explorative Phase, in welcher das Kind erstmals Autonomie erlebt und eigenständig handelt. Die Erfahrungen während dieser Zeit sind prägend und werden als “inner-working-models” in der Psyche verinnerlicht. Des Weiteren bestimmen diese Erfahrungen unbewusst das Verhalten in späteren Beziehungen. Denkt man genauer darüber nach, dann ist das auch ganz logisch, schließlich handelt es sich um einen Lernprozess. Kommt ein Baby mitsamt seinen angeborenen Bedürfnissen auf die Welt und lernt, dass die Mutter diese Bedürfnisse befriedigen kann, wird dieser Zusammenhang verinnerlicht und das Kind fühlt sich sicher. Können die Bedürfnisse nicht befriedigt werden, ist die erste Lernerfahrung im Leben des Kindes eben genau das und es entwickeln sich alternative Verhaltensweisen um damit irgendwie umgehen zu können.
Folgen von Bindung
Sowohl Symbiose als auch Autonomie sind elementare menschliche Bedürfnisse. Entscheidend ist, dass sie beide ihren Platz finden und in einem gesunden Gleichgewicht stehen. Die Ergebnisse für die sichere Bindung repräsentieren genau dieses Gleichgewicht. Wir erinnern uns:
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Die Mutter verlässt den Raum. Dadurch wird das Bindungsverhalten des Kindes aktiviert und das Kind weint, schreit und klammert.
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Die Mutter kehrt zurück. Das Bindungsverhalten wieder aktiviert und das Kind sucht Körperkontakt und will getröstet werden.
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Nachdem sich das Kind beruhigt hat wendet es sich wieder seiner Umgebung zu und spielt weiter. In diesem Verhalten zeigt sich das Streben nach Autonomie und Eigenständigkeit.
Die Bindungsforschung konnte im Laufe ihrer Geschichte nachweisen, dass unsere frühkindlichen Beziehungen viele Bereiche der späteren Entwicklung sowohl positiv als auch negativ beeinflussen können. Dazu zählt:
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Wie wir uns selbst und unsere Umwelt wahrnehmen
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Welche Persönlichkeitsentwicklung wir im Laufe unseres Lebens zeigen
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Wie wir unsere Beziehungen gestalten
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Wie wir uns in Partnerschaft und Ehe verhalten
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Welche Formen von Sexualität, Humor und Moralvorstellungen sich ausprägen
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Welche emotionalen Reaktionen sich zeigen. Zum Beispiel ob eine Tendenz zu Überreaktionen oder Autoritätshörigkeit besteht.
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Ob ein stabiles Selbstbild entstehen kann
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Welche Werte uns wichtig sind
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Wie stressresistent wir sind
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Wie anfällig wir für psychische Krankheiten, wie beispielsweise Depressionen, Angststörungen oder Zwangsstörungen sind
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Wie anfällig wir für psychosomatische Erkrankungen wie zum Beispiel Krebs, Burnout, Herz-Kreislauf-Probleme oder Multiple Sklerose sind
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Wie anfällig wir für Drogen- und Alkoholsucht sind
Neurobiologische Erkenntnisse und genetische Einflüsse
Medizin und Psychologie gehen heutzutage vom Materialismus aus. Das bedeutet, dass alles was wir denken, fühlen und wahrnehmen irgendwo im Gehirn stattfindet. Die Bindungstheorie ist da keine Ausnahme: Die Hirnforschung zeigt, dass die oben genannten Faktoren größtenteils von der rechten Hirnhälfte abhängen. Unsere emotionale Entwicklung hängt damit zu 80 Prozent von der Phase zwischen der zweiten Schwangerschaftshälfte und dem 18. Lebensmonat ab, also noch bevor wir überhaupt bewusst anfangen zu denken. Die Bindungsfähigkeit kann allerdings durch vielfältige Einflüsse wie zum Beispiel traumatische Erfahrungen gestört werden. Für das sensible Gemüt eines Kindes reichen dabei manchmal schon vorübergehende Trennungen aus. Des Weiteren tragen sogar die Gene der Eltern ihren Teil zur Bindungsfähigkeit bei. So beeinflussen Erlebnisse in der Biographie von Müttern und Vätern die Bindungsfähigkeit des Kindes ebenfalls. Diese Erkenntnisse kann man zweifellos als spektakulär bezeichnen.
Bindung als Schutzmechanismus
Was alle Teilbereiche der Bindungsforschung gemeinsam haben, ist die Betonung der Wichtigkeit einer emotional sicheren Bindung des Kindes zu seinen Eltern oder vergleichbaren Bezugspersonen. Die sichere Bindung ist der elementare Schutzfaktor während des Heranwachsens. Kinder mit sicherer Bindung besitzen mehr Empathiefähigkeit, eine bessere Sprachentwicklung und sind kreativer. Das alles sind Fähigkeiten, die dabei helfen könne, in schwierigen Lebenssituationen bessere Lösungsmöglichkeiten zu finden. Der Bedeutung der frühen Kindheit zum Trotz sei an dieser Stelle allerdings noch einmal gesagt, dass es sich selbst bei einer ungünstigen Prägung in den ersten Lebensjahren noch lohnt, am Bindungsverhalten zu arbeiten und zu versuchen negative Verhaltensmuster nicht an die eigenen Kinder weiterzugeben. Unter anderem kann Psychotherapie eine gute Lösung sein. Den eigenen Kindern eine sichere Bindung bieten zu können sollte eines der wichtigsten Ziele in der Erziehung sein!